Caring Communities
Sorgekultur
Sorgekultur gilt in der heutigen Gesundheitsversorgung als Ideal, das man anstreben will. Das Modell der sogenannten Compassionate oder Caring Communities ist aber eigentlich uralt und zutiefst menschlich: Eine Gemeinschaft kümmert sich um alte und kranke Menschen in ihrer Mitte, also um ihre schwächsten Mitglieder, und bezieht sie in den Alltag ein.
Von Sabine Arnold
Allan Kellehear hat dem Samen für das international wachsende Interesse an Compassionate oder Caring Communities gesät. Noch vor der Jahrtausendwende hat der Professor für End-of-Life Care in seinem Aufsatz «Health-promoting palliative care» über diese mitfühlenden und sorgenden Gemeinschaften geschrieben. Er beschreibt sie einerseits als Idee, wie Menschen mit ihren alten, kranken, sterbenden und auch trauernden Mitmenschen umgehen sollen. Andererseits ist diese Sorgekultur – wie der Trend im deutschsprachigen Raum genannt wird – auch eine gesellschaftliche Bewegung.
Was ist mit Sorgekultur am Lebensende genau gemeint? Sie setzt beim natürlichen Netzwerk an, das sich um einen Menschen bildet, der mit der Diagnose einer unheilbaren Krankheit konfrontiert ist. Der englische Palliativmediziner Julian Abel verdeutlicht das in der Abbildung Sorgezirkel:
Am nächsten beim Patienten ist der innere Kreis, der in der Regel aus zwei bis fünf Menschen bestehe, wie Abel ausführt. «Eine Person, der es schlecht geht, will nicht mit zu vielen anderen Menschen zu tun haben, ob sie nun zur Familie gehören, Freunde, Nachbarn, Gemeindemitglieder oder Fachpersonen sind.» Fachpersonen würden nun fälschlicherweise häufig ihre Aktivität auf das Zentrum des Kreises konzentrieren, also die Patientin oder den Patienten. Viel wichtiger sei es aber, dem gesamten inneren Kreis zu helfen. Neben professioneller Unterstützung profitiert er auch von der Gemeinschaft, indem Nachbarn oder Freunde zunächst banal erscheinende Pflichten wie Einkaufen, Kochen oder Putzen übernehmen. Auch wenn es aus dem inneren Netzwerk heisst «Wir brauchen nichts», solle man hartnäckig bleiben, so Abel. Für jemanden zu sorgen, gleiche «eher einem Marathon als einem Spurt». Und die Unterstützung aus der Caring Community ist viel wert, weil eine vorbeigebrachte Mahlzeit sowohl den Betroffenen als auch sein Umfeld wärmt, und das auch im übertragenen Sinn, allein durch die Geste der Fürsorge. Denn der Kranke hat häufig das Gefühl, seinen Nächsten viel aufzubürden. Es tut ihm gut zu sehen, dass auch diese unterstützt werden. Nach einem Todesfall sagen die Angehörigen häufig, ihnen habe die Unterstützung und Sorge von Familie, Freunden und Nachbarn am meisten geholfen.
Beispiele aus der Schweiz
Gelebte Sorgekultur existiert zum Beispiel in klösterlichen Gemeinschaften. Dort leben Menschen, die etwa an einer Demenz erkrankt sind, so weit als möglich selbstständig und nehmen an religiösen Ritualen und am Arbeitsalltag teil und sind jederzeit in die Gemeinschaft eingebettet. Die Perspektive der Sorgenden und der Versorgten werden in die Sorgekultur miteinbezogen.
Andere Projekte, denen eine Sorgekultur zugrunde liegt, wurden erst kürzlich geschaffen: Im Kanton Waadt zum Beispiel haben die Pro Senectute und eine Förderstiftung die sogenannten Quartiers Solidaires ins Leben gerufen. Sie möchten die Lebensqualität von Seniorinnen und Senioren durch eine bessere Integration in ihren Wohnquartieren erhöhen. Die Zielgruppe wird hier gleichzeitig als Akteur verstanden, sie kommt also selber zum Zug, wenn es darum geht, konkrete Projekte zu entwickeln, die ihren Alltag attraktiver gestalten sollen. Zum Beispiel wurden Cafés oder Stammtische als Treffpunkte geschaffen, gemeinsame Sonntagsauflüge initiiert, Kurse organisiert oder eine Zeitung hergestellt.
Auch die Fondation KISS setzt sich für solidarische Gemeinschaften ein. Ihr Ziel ist die Stärkung der Eigenverantwortung und des Gemeinsinns. Menschen verschiedener Generationen unterstützen einander gegenseitig – besonders in Notfällen und im Alter. Analog zum System der Altersvorsorge kann man sich als noch jüngerer Mensch ein Zeitguthaben anlegen: Jede Stunde, in der man jemand anderem hilft, hat man später selbst zugute. Zum Beispiel hilft ein junger Mann einer älteren Frau dabei, Fotos auf Ricardo zu laden. Eine junge Frau spaziert mit einem alten Mann durchs gemeinsame Quartier. Er erzählt ihr dabei Geschichten von früher. Vor Ort tragen Genossenschaften das KISS-Modell.